Ihr Lieben,
heute Abend möchte ich Euch eine Geschichte von Paul Maar
erzählen:
„Die vergessene Tür“
„Ich muss damals acht Jahre alt gewesen sein, als ich im
Hause meiner Großeltern eine Tür entdeckte, die mir Angst machte. Sie befand
sich oben auf dem Dachboden des alten Gebäudes.
Es war eine ganz gewöhnliche, braune Tür aus unbearbeitetem Holz. Einige Male
war ich schon mit Großvater oben auf dem Dachboden gewesen, aber die Tür war
mir noch nie aufgefallen.
„Opa, woher kommt die Tür?“, fragte ich. „Woher soll sie kommen, sie ist schon
immer da gewesen“, antwortete der Großvater gleichmütig. Er suchte unter alle
dem Gerümpel nach alten Flaschen.
„Und wohin führt sie?“, fragte ich weiter. „Nirgendwohin“, sagte er, blies den
Staub von einer Flasche und stellte sie zu den übrigen in einen Korb.
„Nirgendwohin? Das gibt es doch gar nicht. Ich meine: Wenn man da durchgeht, wo
kommt man da hin?“
„Man kann nicht durchgehen.“, antwortete der Großvater
geduldig. „Habt ihr den Schlüssel verloren?“, bohrte ich weiter. „Nein, sie ist
nicht abgeschlossen“, sagte er und lachte ein wenig.
„Du kannst sie öffnen, wenn Du Dich traust, die Spinnweben zu entfernen.“
Ich trat auf die Tür zu, streckte den Zeigefinger aus und
wischte die Spinnweben fort, die vom Türgriff herabhingen. Irgendetwas in
meinem Inneren hinderte mich daran, den Griff anzufassen, herunterzudrücken und
die Tür zu öffnen.
An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich musste
ständig an die Tür denken, die ich nicht geöffnet hatte und die ins Nirgendwo
führte. Schließlich schlief ich doch ein und träumte von einer Tür, aus der
eine große Hand nach mir griff und mich hindurchziehen wollte. Ich sträubte
mich dagegen, ich schrie und schlug um mich, bis Großmutter kam und mich
wachrüttelte.
Während des Tages vergaß ich die Tür. Aber am Abend im Bett
kehrte die Angst zurück. Und wieder hatte ich einen Albtraum, in dem eine
riesige Tür die Hauptrolle spielte.
„Heute Nacht hast Du wieder im Schlaf geschrien“, sagte der Großvater beim Frühstück zu mir.
„Heute Nacht hast Du wieder im Schlaf geschrien“, sagte der Großvater beim Frühstück zu mir.
„Sag schon, was ist da los?“ „Ich fürchte mich vor der Tür“, gestand ich. „Vor
der Tür?“, fragte er verständnislos. „Vor der Tür auf dem Dachboden“,
antwortete ich. Der Großvater schien zu begreifen. „Die Tür, die Du aufmachen
wolltest und dann doch nicht geöffnet hast“, sagte er.
„Da gibt es nur ein Mittel gegen die Angst: Wir gehen
zusammen nach oben und öffnen sie!“
Er nahm mich an die Hand und wir stiegen gemeinsam die Treppen hoch zum Dachboden. Vor der Tür blieb er stehen. „Mach sie auf!“, sagte er. „Kannst Du sie nicht aufmachen?“, fragte ich zaghaft.
Er nahm mich an die Hand und wir stiegen gemeinsam die Treppen hoch zum Dachboden. Vor der Tür blieb er stehen. „Mach sie auf!“, sagte er. „Kannst Du sie nicht aufmachen?“, fragte ich zaghaft.
„Nein“, sagte er. „Wenn man Angst vor etwas hat, gibt es nur
ein Mittel dagegen: Man muss durch die Angst hindurchgehen. Wenn Du die Tür
öffnest, wirst Du Dich niemals mehr vor ihr fürchten.
Ich stand vor der Tür und streckte die Hand nach dem Griff aus. Ich fand es
lächerlich, aber ich schaffte es nicht, diese Tür aufzumachen.
Ich fühlte Schweißtropfen auf meiner Stirn.
„Bitte, Opa,
mach die Tür auf“, bat ich ihn inständig. Er schüttelte den Kopf. „Du muss es
selbst tun“, sagte er.
Mit einem Ruck riss ich den Türgriff nach unten und zog die Tür auf. Dahinter
war nicht als eine rote Bachsteinmauer. „Du hast es geschafft!“, sagte der
Großvater erleichtert. „Siehst Du, es ist genauso, wie ich es Dir gesagt habe,
die Tür führt nirgendwohin.“
„Aber warum ist da eine Mauer?“, fragte ich. „Früher haben
dieses Haus und das Nachbarhaus zusammengehört, man konnte von einem Dachboden
auf den anderen gehen“, erklärte er. „Als mein Vater das Haus gekauft hat, ließ
er die Türöffnung zumauern. Darum ist da jetzt eine Mauer.“
Natürlich habe ich später noch oft Angst gehabt, auch als Erwachsener. Aber
Großvaters Rezept, dass man „durch die Angst hindurchgehen müsse“, hat mir
immer geholfen.“
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| Quelle: Raymonde Graber |
Ihr Lieben,
bei unseren Ängsten, die manchmal unser Leben erschweren,
die unser Leben manchmal verdunkeln, verhält es sich wie mit der Tür in unserer
Geschichte. Die Tür ist nicht verschlossen, der Zugang zur Tür ist uns nicht
verwehrt, aber wir trauen uns nicht, die Tür zu unserer Angst aufzumachen, uns
unserer Angst zu stellen.
Wir vermuten hinter der Tür ganz schreckliche Dinge, unsere
Fantasie spielt uns manch schrecklichen Streich in dem Zusammenhang und mit der
Zeit entwickeln wir sogar Angst vor der Angst!
Das einzige Mittel, um die Angst zu besiegen, ist, sich ihr
zu stellen, die Tür zu öffnen und der Angst ins Gesicht zu blicken. Wenn wir
die Tür zur Angst nicht öffnen, dann wird unsere Angst immer größer, weil wir
uns ihr nicht stellen, weil wir nicht wissen, was sich hinter der Tür genau
verbirgt.
Eine solche Angst hat in unserer Straße sogar eine Bezeichnung:
Es ist die
namenlose Angst, die unsere Lebensfreude tötet.
Erst dann, wenn wir uns der
Angst stellen, wenn wir ihr ins Angesicht blicken, bekommt sie einen Namen und
wir werden wie der kleine Junge in unserer Geschichte, in vielen Fällen
feststellen, dass die Angst in Wirklichkeit nicht bedrohlicher ist als die
Backsteinmauer in unserer Geschichte.
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| Quelle: Helmut Mühlbacher |
Ihr Lieben,
Ich wünsche Euch einen heiteren angstfreien Abend und grüße Euch herzlich aus
Bremen
Euer fröhlicher Werner
Euer fröhlicher Werner
| Quelle: Karin Heringshausen |


Sehr schöne Geschichte. Sollten viele Menschen beherzigen.
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