"Freunde sind Engel, die uns auf die Beine helfen,
wenn unsere Flügel vergessen haben, wie man fliegt." Unbekannter Dichter
Ihr Lieben,
da mich mehrere aus dem Kreis meiner Freundinnen und Freunde bei Facebbok gebeten haben, etwas mehr von meinem Jugendfreund Hans-Christoph zu erzählen, komme ich dieser Bitte hiermit gerne nach:
"Mein Jugendfreund"
In meiner Kindheit und Jugend habe ich, vielleicht bedingt durch meine eigene Lage, sehr gerne Geschichten gelesen, in denen Gott Menschen, die in großer Not waren, Engel schickte. Unter Engeln stellte man sich in der Vergangenheit und stellt man sich gelegentlich auch noch in der Gegenwart Wesen vor, bekleidet mit einem weißen wallenden Gewand und mächtigen Flügeln.
Ich glaube nicht, dass Engel so aussehen, ja, ich weiß nicht einmal, ob es tatsächlich Engel gibt. Aber wenn es sie gibt, dann handelt es sich bei den Engeln mit Sicherheit nicht um ferne, unnahbare Märchenwesen, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut, wohlmeinende Menschen, die Gott zu uns in den Weg schickt, liebevolle Menschen, die eine gute Botschaft für uns haben, die eine kleine oder auch größere Wegstrecke mit uns gehen, die für uns in einer ganz besonderen Notlage da sind und uns helfen.
Hans-Christoph Köbele war wohl einer dieser von Gott gesandten Engel.
Hans-Christoph war einer der wunderbarsten und der wertvollsten Menschen, die mir in meinem bisherigen Leben begegnet sind und er war in meiner Kindheit und Jugend nach Gesine, meiner ersten Freundin, der zweite Mensch, der in mein Leben strahlendes Licht, helle Freude und wärmende Liebe brachte.
Ich glaube fest daran, dass Gott mir Gesine und Hans-Christoph als helfende, tröstende Engel geschickt hat, um ein wenig leichter die Hölle meiner Kindheit und Jugend durchstehen zu können.
Die Freundschaft
Aufgrund sehr schlimmer Erlebnisse und Übergriffe auf mich wurde ich sehr krankI und musste ein Schuljahr wiederholen. Ich erinnere noch, als wäre es gestern gewesen, wie ich den Klassenraum meiner neuen Klasse das erste Mal betrat. Es hatte gerade zur großen Pause geläutet und alle Schülerinnen und Schüler verließen eilig den Klassenraum.
Alle? Nein nicht alle, einer blieb zurück in der Klasse.
Hans-Christoph war sehr schwer asthmakrank, wie ich in der Folgezeit von ihm erfuhr, und deshalb zog er es vor, wenn es ihm nicht gut ging, während der Pausen in der Klasse zu bleiben.
Als er da so alleine an seiner Schulbank saß, klein, schmal und blass, entdeckte ich, dass der Platz neben ihm unbesetzt war, jedenfalls konnte ich keine Schulhefte und auch keinen Tornister entdecken. Hans-Christoph hockte im Schneidersitz auf seinem Stuhl und war in die Lektüre eines spannenden Buches vertieft.
Ich schlich zu Hans-Christoph hin, tippte ihm auf die Schulter und fragte ihn vorsichtig, ob ich mich neben ihn setzen dürfe. Hans-Christoph stutzte einen Augenblick. Er strahlte und lachte über sein ganzes freundliches, feingeschnittenes Gesicht und sagte laut und deutlich:
Na klar, gerne, ich freue mich riesig!
Das war die Geburtsstunde unserer kurzen, tragischen, aber wunderschönen und erlebnisreichen Freundschaft.
Bereits nach kurzer Zeit war unsere Freundschaft derartig eng, dass wir sehr oft von anderen Schülern und Erwachsenen nicht nur für außerordentlich gute Freunde, sondern sogar für Brüder gehalten wurden.
Hans-Christoph war aufgrund seiner außerordentlich schweren Krankheit körperlich stark zurückgeblieben, dafür aber aufgrund seiner schmerzhaften Krankheitserfahrungen seinem Alter geistig weit voraus. Ich bin mir sicher, dass Hans-Christoph unbewusst um die Schwere seiner Krankheit wusste und im Tiefsten erahnte, dass er nicht sehr lange zu leben hatte.
Wir waren füreinander fast die ideale Ergänzung.
Hans-Christoph war körperlich durch seine schwere Krankheit zurückgeblieben und schwer gezeichnet. Ich war zwar körperlich nicht besser entwickelt als er, dafür aber wesentlich kräftiger.
Er war durch sein fast schon lebenslanges Leiden geistig seinem Alter weit voraus, ich dagegen, bedingt durch meine persönlichen Verhältnisse zuhause, geistig weit hinter meinem Alter zurück.
Wann immer sich uns die Gelegenheit bot, planten Hans-Christoph und ich nachmittags nach der Schule und in den Ferien erlebnisreiche Unternehmungen, wir fertigten gemeinsam unsere Hausaufgaben an, wir besuchten oft die Bremer Kinos und sahen uns dort gerne Monumentalfilme, wie „Ben Hur“, oder Filme, wie „Den sie wissen nicht, was sie tun“, an.
Im Sommer hielten wir uns oft zum Schwimmen am Achterdieksee auf. Wir nahmen uns von zuhause frisch gebratene Frikadellen und lecker zubereiteten Kartoffelsalat und erfrischende Limonade mit und blieben den ganzen Tag dort.
Rechts vorne liegt der See
Schien die Sonne sehr stark, suchten wir uns ein schattiges Plätzchen und machten es uns dort gemütlich. Wir lagen stundenlang bäuchlings auf unseren großen Badehandtüchern und unterhielten uns über Gott und die Welt.
Wir unternahmen verwunschene Radtouren, die uns in manches unbekannte schöne Terrain führte. Unterwegs machten wir aus Rücksicht auf die schwere Asthmaerkrankung von Hans-Christoph zwischendurch immer wieder kleine oder größere Pausen, je nachdem, wie gut Hans-Christoph drauf war.
Bekam Hans-Christoph unterwegs einen Asthmaanfall, hatte ich immer etwas Angst, versuchte aber, ihm das dann nicht zu zeigen.
Dennoch war es immer ein erbarmungswürdiger Anblick, der mein Herz zusammenkrampfen ließ, wenn ich sah, wie Hans- Christoph voller Not nach Luft rang und seinen Sprayapparat ansetzte, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen.
Wurde der Anfall zu heftig, hängte sich Hans-Christoph mit seinen beiden Armen um meinen Hals, um so seine Lungen zu weiten und mehr und besser Luft zu bekommen.
Mitunter schleppten wir auf unseren Radtouren auch ein kleines Zelt mit, das ursprünglich nur für eine Person gedacht war, aber es reichte wunderbar für uns zwei halbe Portionen.
Wir suchten uns ein Plätzchen an einem lauschigen See oder an einem wiesenbedeckten Waldesrand, wo wir das Zelt aufschlagen konnten.
Wir lagen bäuchlings im Zelt und nur unsere Köpfe schauten aus dem Zelt heraus. Wir horchten nachts auf die unterschiedlichsten und vielstimmigen Geräusche des Waldes und des Wassers.
Hans-Christoph übte einen außerordentlich guten und positiven Einfluss auf mich aus und das in vieler Hinsicht.
Er steckte mich mit seiner unbekümmerten Fröhlichkeit an. Und, obwohl er selber so schwer krank war, tröstete er mich immer, wenn ich tieftraurig und trübsinnig war und er machte mir immer wieder aufs Neue Mut, gegen alle Wirklichkeit, gegen alles Böse, gegen alle Erfahrung an eine bessere, schönere, fröhlichere und friedlichere Zukunft zu glauben, darauf zu hoffen, dafür zu arbeiten und niemals aufzugeben.
Ich darf heute im Rückblick wohl sagen, dass ich ohne das, was ich von Hans-Christoph gelernt habe, die Zeit meiner Jugend nicht überlebt hätte, sondern dem ganz grausamen Treiben irgendwann einmal ein Ende gesetzt hätte.
Hans-Christoph hatte eine wunderbare unvergleichliche Art, mir wichtige, unentbehrliche Lebensweisheiten zu vermitteln. Ich möchte das an drei Beispielen illustrieren:
1. Hans-Christoph war der erste Mensch, der mir deutlich machte, dass ich kein Stück Dreck sei, sondern ein wertvoller Mensch. Er hatte dafür eine einfache Übung, die angeblich von Konrad Adenauer stammte: Er nahm ein weißes Blatt Papier und teilte es mit einem Bleistiftstrich von oben nach unten. Links sollte ich dann 5 Eigenschaften aufschreiben, die meine Mutter oder andere Menschen mir zuschreiben würden und recht sollte ich fünf Eigenschaften eintragen, von denen ich glaube, sie zu haben. Die linke Spalte war schnell gefüllt, ich hörte ja jeden Tag genug Negatives über mich. Erst nach langem Nachdenken und mithilfe von Hans-Christoph lernte ich, in mich hineinzuschauen und meine verborgenen Talente und Fähigkeiten zu entdecken und so füllte sich mit der Zeit auch die rechte Spalte.
Hans-Christoph verdanke ich, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben, einmal abgesehen von Gesine, als wertvoller, liebenswerter Mensch wahrgenommen wurde.
2. Eines Tages, als Hans-Christoph und ich bei ihm zu Hause waren und im Garten herumtollten, holte er sich ein Metermaß von seiner Mutter und maß zehn Meter ab. Dann bat er mich, diese zehn Meter weit zu springen. Aber so sehr ich mich auch mühte, bei 3,50 Meter landete ich. „Das wirst du nie schaffen“, sagte er zu mir, „das wäre ja auch Weltrekord! Aber jetzt tue mir doch bitte den Gefallen und gehe die 10 Meter.“ Das war natürlich eine ganz leichte Übung. „Die meisten Menschen haben in ihrem Leben keinen Erfolg, wenn sie einen Traum verwirklichen oder ein Ziel erreichen wollen“, so machte mir Hans-Christoph klar, „weil sie unbedingt zehn Meter weit springen wollen. Und weil sie das natürlich nicht schaffen können, werden sie depressiv und geben auf. Vergiss das nie: Du kannst sehr viel erreichen in deinem Leben, wenn du bereits bist, Schritt für Schritt zu gehen!“
3. Das größte Geschenk aber erhielt ich an einem windstillen ruhigen Sommerabend von Hans-Christoph. Es war so gegen 23 Uhr und wir saßen draußen in Garten der Familie Köberle. Plötzlich erschien Hans-Christoph mit einer großen roten Altarkerze, die er angezündet hatte (Sein Vater war Pastor). Er gab mir diese Kerze und ich umklammerte sie mit beiden Händen. Dann gingen wir ein wenig weg vom Haus direkt in den Garten. Und dort hat er mir eine Wahrheit, eine Botschaft, eine Hoffnung zugerufen, wie ich sie niemals in meinem Leben in dieser Großartigkeit von einem der gelehrten Professoren hörte, denen ich später an der Universität begegnete. Hans-Christoph sagte zu mir: „Werner, das Licht, dass Du da in den Händen hältst, ist klein und unscheinbar. Du kannst damit weder Bremen, noch unseren Stadtteil, ja nicht einmal unseren Garten erhellen. Aber das ist nur eine Seite. Andererseits aber gilt auch und das ist durch die Wissenschaft sogar bewiesen: Das gesamte Dunkel dieses Gartens, von ganz Bremen, ja, der gesamten Welt und auch die Finsternis des gesamten Weltalls können dein Licht nicht auslöschen. Deshalb lass in deinem Leben dein Licht leuchten und gib niemals auf.“
Das Lebensmotto von Hans-Christoph
Ich kann nicht sagen, woher Hans-Christoph seine Weisheit nahm, aber seine Worte haben sich mir unauslöschlich eingebrannt und mir das Leben gerettet.
An mir schätzte Hans-Christoph besonders, dass ich außerhalb seiner Familie fast der einzige Mensch war, der ihn nicht wie einen Schwerkranken, wie einen Behinderten behandelte, sondern ihn immer als einen normalen Freund und Spielkameraden ansah.
Bevor ich Hans Christoph kennenlernte, war ich nicht gerade eine große Leseratte.
Abenteuerbücher von Karl May, Mickeymaus-Hefte und Ähnliches, geistig nicht sehr anspruchsvolles Lesegut war mein geistiger Horizont.
Hans-Christoph weckte vorsichtig und schrittweise in mir die Lust, mich an wertvollere Literatur zu wagen und mich auch an die Werke unserer großen Dichter und Denker heranzutrauen.
Er schleppte mich zu diesem Zweck regelmäßig in die Stadtbücherei, wo wir oft stundenlang in Büchern schmökerten.
Durch ihn stieß ich in der Stadtbücherei zum ersten Mal in meinem Leben auf Berichte und Reisebeschreibungen über fremde, geheimnisvolle Länder. Eine neue, eine unbekannte Welt tat sich vor mir. Es war, als hätte mir jemand die Tür zu einem Paradies aufgetan, neue Erkenntnisse, neue Ansichten, neue Farben, neues Wissen strömten auf mich ein.
In der Stadtbücherei gab es neben der Bücherabteilung auch eine kleine, aber sehr feine Abteilung, in der man Schallplatten anhören konnte.
Ich gebe zu, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinerlei Beziehung zur klassischen Musik. Zu Hause besaßen wir einen Plattenspieler, der oben in einem hölzernen Loewe-Opta Radio eingebaut war. Auf diesen Plattenspieler wurden sonntagmorgens mithilfe eines sogenannten Wechslers zehn Klassikplatten aufgetürmt und diese nacheinander abgespielt.
Dieses System hatte den gravierenden Nachteil, dass man von allen 10 Musikplatten zuerst die erste Seite hörte, anschließend wurden die 10 Platten umgedreht und nun hörte man von allen Platten die zweite Seite. Mir hat das nie gefallen und deshalb hörte ich der Musik nie zu, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Musik ständig überlagert wurde von den schmatzenden und gurgelnden Geräuschen des Frühstücks und des Kaffees und von den Gesprächen meiner Familie, die in ihrer Flachheit diametral im Gegensatz zu dieser wertvollen klassischen Musik standen. Aber offen gesagt, um den Genuss der Musik ging es auch gar nicht, es ging nur um ein Ritual, das unbedingt jeden Sonntag eingehalten werden musste.
Hans Christoph verstand wirklich sehr viel von der wunderschönen, klassischen Musik und es gelang ihm, zwar zunächst mühsam, aber immer beharrlich, in mir eine große, tiefe Liebe zu dieser Musik zu wecken.
Durch ihn lernte ich vor allem Beethoven, Bruckner, Bach, Schubert und Mozart zu schätzen. Aber nicht nur die Liebe zu der Musik weckte er in mir, nein, er vermittelte mir auch die notwendigen Hintergrundinformationen zu den einzelnen Musikwerken.
Unser persönlicher Favorit waren die neun Symphonien von Beethoven. Immer und immer wieder haben wir uns bei Hans-Christoph zuhause oder in der Stadtbücherei diese Symphonien angehört. Wir konnten uns einfach nicht satt hören.
Regelmäßig brachen wir abends auf und besuchten Opernaufführungen, wir sahen uns z.B. Mozarts Zauberflöte, Beethovens Fidelio oder Verdis Nabucco an. Ich saß, völlig versunken in eine fremde, mir bisher unbekannte Welt, völlig außer mir, mit großen, fragenden und alles Geschehen aufsaugenden Augen da und folgte der Handlung auf der Bühne und lauschte hingebungsvoll der herrlichen Musik des Orchesters und dem strahlenden Gesang der Sänger und der Chöre.
Der Freiheitschor der Gefangenen aus Nabucco wurde von da an mein ganz persönlicher Hit. Ich erinnere mich noch genau, dass ich jedes Mal, wenn ich den ergreifenden Freiheitschor aus Verdis Oper Nabucco hörte, hemmungslos weinte und dass Hans-Christoph meinen Kopf in seinen Armen barg und mich tröstete.
Wir nutzten auch die Gelegenheit, ein Musical zu besuchen. Bevor ich zum ersten Mal mit Hans-Christoph in die Aufführung eines Musicals ging, wusste ich nicht einmal, wie man Musical schreibt, geschweige denn, dass ich gewusst hätte, was ein Musical ist.
Zwei Musicals lernte ich besonders zu lieben:
„My Fair Lady“ und „Mary Poppins“.
Wenn Hans-Christoph und ich abends bei ihm zu Hause in unseren Betten lagen, sangen wir mit unseren schrägen, dünnen Knabenstimmen, nicht schön, aber hörbar laut den berühmtesten Song aus „My Fair Lady“:
„Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen, - ich glaub, jetzt hat sie´s, ich glaub, jetzt hat sie´s -es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen, - mein Gott, jetzt hat sie`s, mein Gott, jetzt hat sie`s...“
Aus „Mary Poppins“ brannte sich mir das eine herrliche, spaßige Wort ins Gedächtnis, welches das Kindermädchen Mary Poppins den Kindern beibrachte.
Wann immer ich damals und in der späteren Zukunft etwas gut fand, wendete ich mit Vorliebe dieses Wort an, es lautete:
„Superkalifragilistischexplialigetisch.“
Durch Hans-Christoph lernte ich zum ersten Mal Theaterstücke kennen, wie z.B. „die Räuber“ von Schiller. Zu der damaligen Zeit hatte das Bremer Theater mit Peter Zadek einen außerordentlich renommierten Regisseur.
Die Theaterstücke ergriffen Hans-Christoph und mich tief in unserem Inneren, sie wurden ein Teil von uns und wir wurden ein Teil von ihnen. Kaum zuhause angekommen, versuchten wir uns mit alten abgelegten Anziehsachen zu verkleiden und wie auf einer Bühne spielten wir uns das entsprechende Theaterstück gegenseitig noch einmal vor. Dabei lasen wir den Text aus den Reclamheftchen, die wir uns zu diesem Zwecke kauften.
Hans-Christoph war unermüdlich, so weit es seine schwachen, begrenzten Kräfte es erlaubten.
So schleppte Hans-Christoph mich in die verschiedenen Museen und wir waren oft tagelang im Überseemuseum in Bremen. Zum wiederholten Male öffnete Hans-Christoph mir die Tür zu einer neuen, unbekannten und so lehrreichen und geheimnisvollen Welt.
Mein Verhältnis zu Hans-Christoph war bald so eng, dass ich mich fast die ganze Woche bei ihm zu Hause aufhielt, sehr oft gleich für mehrere Tage und Nächte. Ich fühlte mich bei ihm und seinen Eltern einfach wohl.
Das Zuhause von Hans-Christoph glich einer Insel des Glücks, ich wurde nach meiner Meinung gefragt, es wurde gefragt: „Was möchtet ihr, was möchtest du heute Mittag essen, wie geht es dir? Warum bist du traurig?“
So kam es des Öfteren vor, dass seine Mutter mittags meine Lieblingsessen kochte, wie z.B. Milchreis mit Zucker und Zimt oder ein schönes Omelett mit Heidelbeeren.
Aber nicht nur, dass seine Mutter uns unsere geheimsten Essenswünsche erfüllte, nein, wir durften bei der Zubereitung dieser köstlichen Speisen mitwirken. Ein Duft nach süßen Zutaten durchzog die Küche, den ich tief einatmete und wir durften während der Zubereitung ohne Ende naschen.
Wir knabberten an den Nüssen wie die Eichhörnchen, wir schleckten selbstgemachtes Eis und leckten jede Küchenschüssel aus, derer wir habhaft werden konnten.
Zusammen mit seiner Mutter backten wir mit heißen Köpfen und unter fröhlichem Lachen an einem Wochenende einen Schokoladenkuchen für seinen Vater, der wenige Tage später Geburtstag hatte.
Der Schokoladenkuchen gelang uns ganz prächtig mit dem kleinen, aber verzeihlichen Fehler, dass wir beide anschließend selbst einem Schokoladenkuchen nicht unähnlich waren.
War Hans-Christoph besonders glücklich, ergriff er die linke Hand seiner Mutter, umfasste mit seinem rechten Arm ihre Hüfte und schwenkte sie durch die ganze Küche und schrie seine überschäumende Lebensfreude und seinen nicht nachlassenden Lebensmut heraus: „Mama, schrie er, du bist die Beste, ich liebe dich!“
Seine Mutter lächelte verschmitzt, streichelte ihm über den Kopf sagte leise: „Das Wichtigste ist, dass du glücklich bist!“
Wenn sie Hans-Christoph in den Arm schloss und fest an sich drückte, nahm sie mich hinterher ebenfalls in die Arme.
An den Wochenenden waren Hans-Christoph und ich sehr häufig auf dem Resthof seiner liebenswerten Großeltern in Fischerhude, einem malerischen kleinen Bauerndorf bei Bremen, wo wir viele unbeschwerte und fröhliche Stunden erlebten.
Die Großeltern hatten auf dem Resthof einen kleinen Schwimmteich angelegt, in den wir regelmäßig mit flinkem Anlauf und einer Arschbombe, wie wir das nannten, hineinsprangen. Mit viel Geschrei und großem Gelächter wiederholten wir das Spielchen so oft, bis uns der Großvater in der Dämmerung mit gütigen Worten, aber sehr bestimmt, in die gute Stube scheuchte.
Bei einem benachbarten, älteren Bauern durften wir auf Ponys reiten und dort oft im Heu übernachten. Aber an Schlaf war kaum zu denken, denn zum einen piekte das Heu und zum anderen hielten uns die geheimnisvollen Geräusche wach, die aus dem Stall herüberdrangen.
Diese Stunden des Glücks, der Unbeschwertheit, des Leichtseins auf dem Resthof in Fischerhude zusammen mit meinem Freund Hans-Christoph waren für mich Oasen der Liebe in der Wüste der Lieblosigkeit und Gewalt. Der Aufenthalt dort bot mir die unverdiente Möglichkeit, meinem Alltag zuhause wenigstens stundenweise zu entgehen und zu vergessen, was mir zuhause und anderswo angetan worden war.
Die Berlinreise
„Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: Ich bin ein Bürger Roms“.
John F. Kennedy
Hans-Christoph und ich, wir schwärmten damals sehr für John F. Kennedy, den amerikanischen Präsidenten. Wir verschlangen voller Neugier alle Berichte und Bücher über ihn und lasen uns gegenseitig seine Reden vor, die von guten Hoffnungen und positiven Zukunftsvisionen erfüllt waren.
Besonders seine Rede, die er zu seinem Amtsantritt als Präsident gehalten hatte, hatte uns sehr beeindruckt:
„Frage Dich nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frage Dich vielmehr, was Du für Dein Land tun kannst.“
Und nun, unglaublich, aber wahr, im Juni 1963 kam Präsident Kennedy nach Deutschland.
Ein junger Mann, der Thomas, aus der Gemeinde, in der Herr Köbele, der Vater von Hans-Christoph, Pastor war, plante, mit seinem altersschwachen, schon etwas klapprigen, aber noch voll fahrtüchtigen VW-Bus nach Berlin zu fahren, um dort dabei zu sein, wenn Präsident Kennedy zu den Berlinern sprechen würde.
Thomas bot Hans-Christoph und mir an, uns zusammen mit zwei anderen Jungs mit nach Berlin zu nehmen.
Die Eltern von Hans-Christoph stimmten diesem Vorhaben sofort zu. Sie hatten wohl schon die Vorahnung, dass Hans-Christoph nicht mehr sehr lange zu leben hatte.
Mir war klar, dass ich meine Mutter gar nicht erst um Erlaubnis bitten brauchte, sie hätte es mir nie gestattet, an der Fahrt nach Berlin teilzunehmen.
So hinterließ ich ihr am Morgen des 25. Juni 1963 auf dem Küchentisch nur einen mit zittriger Hand geschriebenen Zettel, auf dem ich ihr mitteilte, dass ich zusammen mit Hans-Christoph und Thomas und zwei weiteren Jugendlichen auf dem Weg nach Berlin sei, um Kennedy zu sehen und dass ich erst zwei Tage später zurückkehren würde.
Während Hans-Christoph von seiner Mutter ordnungsgemäß schriftlich in der Schule entschuldigt wurde, blieb mir nicht anderes übrig, als die Schule zu schwänzen und so packte ich mir einige wenige Anziehsachen für die Reise in meinen Schultornister und einen zusätzlichen Turnbeutel.
Als die Reise begann, ging es Hans-Christoph gesundheitlich gar nicht gut, aber er wollte unbedingt mitfahren und bat uns flehentlich unter Tränen, ihn nicht zurückzulassen. Während der anstrengenden Fahrt nach Berlin ruhte er auf einer der Sitzbänke und sein Kopf lag schweißüberströmt auf meinem Schoß.
Die beiden anderen Jugendlichen, die etwas älter als Hans-Christoph und ich waren, saßen vorne bei Thomas, der uns fuhr.
Wir beide Hans-Christoph und ich, wir waren noch nie zuvor in Berlin gewesen.
Die Kontrollen der Volkspolizei an der innerdeutschen Grenze machte uns ein wenig Angst. Mit ernstem, ja fast grimmigem Gesicht kontrollierten sie peinlichst genau jeden Winkel des Busses und sie ließen es sich auch nicht nehmen, unter den VW-Bus zu kriechen, auf der Suche, ob sich dort vielleicht jemand versteckt hätte.
Endlich, es war bereits am späten Nachmittag kamen wir in Berlin an und wir staunten wie kleine übermütige Kinder über die bunte Vielfalt der Leuchtreklamen, über die emsig sich fortbewegenden Menschenmengen auf dem Kurfürstendamm und über die Berliner Mauer, die brutal mitten im pulsierenden Leben dieser Stadt durch die Häuser und die Familienbindungen Berlins brach und uns schockiert und mit Unverständnis zurückließ.
Thomas, der uns in vorbildlicher Weise sicher nach Berlin gebracht hatte, war in Berlin mit einer sehr netten, fürsorglichen Familie befreundet.
Als Thomas wenige Wochen vor unserer Reise wegen einer Schlafmöglichkeit nachfragte, stellte diese Familie uns unentgeltlich sofort für die entsprechenden Tage ihr geräumiges Gartenhäuschen zur Verfügung
Hans-Christoph ging es an diesem Abend schlecht.
Die wichtigen Tipps und guten Ratschläge, wie ich mit Hans-Christoph umgehen musste, wenn es ihm nicht gut ging, hatte mir seine Mutter schon vor längerer Zeit gegeben.
Am nächsten Morgen machten wir uns nach einem ausgiebigen, leckeren Frühstück, zu dem wir erfrischendes Orangensaft tranken, auf den Weg zum Schöneberger Rathaus, um rechtzeitig einen Platz zu ergattern, von dem aus man einen Blick auf Präsident Kennedy werfen konnte und vor allem, von dem aus man ihn verständlich hören konnte.
Um die Wartezeit, die sich quälend lange hinzog, zu überbrücken und für Hans-Christoph erträglich zu machen, hatten wir für ihn einen kleinen Camping-Hocker mitgeschleppt, damit er sich nicht durch das lange Stehen überanstrengte und da sehr schönes Wetter herrschte und die Sonne vom blauen Himmel lachte, hatten wir alle weiße Baumwollmützen auf dem Kopf, um uns gegen die Sonne zu schützen, und genug Getränke dabei, um uns jederzeit erfrischen zu können.
Kennedys Auftritt und seine kraftvolle Rede war für uns ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis.
Dieser Mann hatte so viel Charisma.
Er strahlte soviel Hoffnung, soviel Mut, so viel Zuversicht aus. Wir waren zutiefst aufgewühlt und jubelten ihm zu und vergaßen die Welt um uns herum.
Damit Hans-Christoph und ich ab und zu noch mehr von dem Geschehen um Kennedy mitbekamen, hievte Thomas uns abwechselnd auf seine Schultern.
Als Präsident Kennedy seinen berühmten gewordenen Satz sprach: „Ich bin ein Berliner“, kannte der Jubel auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus keine Grenzen mehr. Eiskalt lief es uns über den Rücken, so sehr hatte Kennedy uns tief innen drin berührt.
Am Ende der Veranstaltung verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Hans-Christoph wieder erheblich, deshalb fuhr uns Thomas zurück in unser Quartier, von dort startete er mit den beiden anderen Jugendlichen noch zu einem Stadtbummel durch die Innenstadt Berlins, während ich bei Hans-Christoph zurückblieb.
Gegen Abend ging es ihm deutlich besser und wir konnten noch ein wenig spazieren gehen. Ich lud Hans-Christoph in einen kleinen Imbiss ein, in dem man sitzen konnte und wir verzehrten mit ganz großem Genuss jeder ein halbes knuspriges Hähnchen mit leckeren Pommes Frites.
Für Hans-Christoph und mich machte Thomas am nächsten Tag vor unserer Rückreise mit seinem VW-Bus einen kleinen Schlenker durch die Berliner Innenstadt, eine Art Ministadtrundfahrt.
Traurigerweise mussten wir danach leider wieder die Heimreise antreten.
Leider ist Hans-Christoph im Alter von fast 15 Jahren bereits an seiner schweren Asthmaerkrankung gestorben. Obwohl sein Tod schon über 45 Jahren her ist, besuche ich heute noch regelmäßig die Stelle, wo früher sein Grab war. Am Heiligen Abend bringe ich immer zusammen mit meinen Lieben den Adventskranz, der nicht mehr gebraucht wird und stelle ihn auf sein Grab zusammen mit einem Schokoladenweihnachtsmann und entzünde ein Licht an der Stelle seines Grabes.
Ich bin unendlich froh, dass ich ein sehr merkwürdiges Gedächtnis habe:
Das Gute, das mir einer tut, vergesse ich nie, aber
Das Gute, das mir einer tut, vergesse ich nie, aber
das Böse, das mir jemand tut, lasse ich im Ozean der Vergebung versinken.
Ganz liebe Grüße an Euch, meine Lieben, Euer fröhlicher Werner, der Euch auch solche Freunde wünscht!




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