3080 Geschichten


Auf dem ESELSKIND-Blog stehen inzwischen 3.087 Geschichten und zwei Mal in der Woche kommen weitere hinzu.

Ich wünsche jeder Leserin und jedem Leser recht viel Freude beim Lesen der Geschichten und ich hoffe, dass Euch die Geschichten ein wenig ermutigen und Euch veranlassen, niemals aufzugeben, denn denkt bitte immer daran:
Ihr seid etwas Besonderes, Ihr müsst nur Eurer Licht zum Leuchten bringen


Euer fröhlicher Werner aus Bremen

Samstag, 15. Januar 2011

Kannitverstan - eine Geschichte mit Tiefgang von Johann Peter Hebel, die auch uns etwas zu sagen hat


Kannitverstan - eine Geschichte mit Tiefgang von Johann Peter Hebel, die auch uns etwas zu sagen hat

Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen, so gut als in Amsterdam Betrachtungen über den Umstand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen.

Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt, voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen, gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Duttlingen bis Amsterdam noch keines erlebt hatte.



Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die 6 Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür.

Endlich konnte er sich nicht zurückhalten, einen Vorübergehenden anzusprechen.

"Guter Freund", redete er ihn an, "könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?" -

Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte, und zum Unglück gerade soviel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: "Kannitverstan" und eilte vorüber.

Dies war ein holländisches Wort, oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch soviel als: Ich kann Euch nicht verstehen.

Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte.

Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er, und ging weiter.

Nachdem er Gasse für Gasse durcheilt hatte, kam er endlich an den Meerbusen. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum und er wusste anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen schaffen werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerksamkeit auf sich zog, das vor Kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde.

         

Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer.

Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie denn der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe.

"Kannitverstan"
, lautete die Antwort. Da dacht er: Ha, da schauts heraus!

Kein Wunder, wem das Meer solch Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen, und solcherlei Tulipanen vor die Fenster in vergoldeten Scherben.

Jetzt ging er wieder zurück, und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei unter soviel reichen Leuten in der Welt.

Aber als er eben dachte: Wenn ichs doch nur auch einmal so gut hätte wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug.

Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüssten, dass sie einen Toten zu seiner letzten Ruhe führten.

Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar um Paar, verhüllt in schwarze Mäntel, und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein.

Jetzt ergriff unseren Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war.

Doch machte er sich an den letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um 10 Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel, und bat ihn treuherzig um eine Auskunft.

"Das muss wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein", sagte er, "dem das Glöcklein läutet, dass Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht." -

"Kannitverstan!"
war die Antwort. Da fielen unserm guten Duttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz.

"Armer Kannitverstan", rief er aus, "was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leinentuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust, oder eine Raute".

Mit diesen Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazugehörte, bis ans Grab, sah den vermeinlichen Herrn Kannitverstan hinabsinken in seine Ruhestätte, und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht acht gab.

Endlich ging er leichten Herzens mit den anderen wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und, wenn es ihm wieder einmal schwerfallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien, und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff, und an sein enges Grab.


Illustrationen: Kunst-AG, GHS Hausen i. W., Ltg Peter Grüninger
 




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