Falsche Freunde
Wie sich Erwachsene im Internet an Kinder heranmachen
Nicht jeder Freund, mit dem ein Kind im Internet chattet, ist wirklich einer –
wie sich Erwachsene im Netz an Minderjährige heranmachen.
Im virtuellen Leben kann jeder das sein, was er will. Auch Bine. Sie will älter sein, sie macht sich zwei Jahre älter. Muss ja keiner wissen, dass sie erst dreizehn ist.
Über eine Internetfreundin lernt sie Mike kennen. Mike ist 15. Ein braun gebrannter Sonnyboy mit halblangen blonden Locken. Mit ihm kann man toll über den Stress mit den Eltern, den Ärger in der Schule, den Zoff in der Clique quasseln. Er versteht sie – ganz anders als ihre Eltern oder die Lehrer.
Mike hat auch nette Freunde. Zum Beispiel Carsten, seinen gleichaltrigen Stiefbruder. Oder Dieter, 32, den coolen Nachbarn. Nach ein paar Tagen tauschen sie ihre E-Mail-Adressen aus, sie schreiben sich täglich. Mike hat Bine seine Handynummer gegeben. "Aber wundere dich nicht über meine tiefe Stimme. Ich bin gerade im Stimmbruch", warnt er, bevor sie zum ersten Mal telefonieren. Das Mädchen findet ihn nett, verliebt sich in ihn.
Der Missbrauch der arglosen Bine geht weiter. Mike droht, er würde die Nacktbilder an der Schule herumzeigen, wenn das Mädchen seine Wünsche nicht erfüllt. Die Dreizehnjährige lässt sich einschüchtern und macht mit. Er erpresst sie zu Webcam-Fotos nach seinen Wünschen. Sie holt sogar noch Freundinnen vor die Kamera. An einem Tag lockt der Junge mit Liebesschwüren und spricht von der Heirat im Internet, am nächsten droht er ihr. Und immer, wenn Bine die Beziehung ein für allemal beenden will, schalten sich Nachbar Dieter und Stiefbruder Carsten ein und machen ihr ein schlechtes Gewissen: Sie sei schuld, wenn der Mike wieder Drogen nehme, sie sei verantwortlich, wenn sich ihr Freund aus Liebeskummer umbringe. Die beiden haben das Mädchen in der Hand – der Missbrauch geht weiter.
Was wie eine konstruierte Geschichte fürs Grusel-TV klingt, hat sich so in Südbaden ereignet. Irgendwann fliegt das böse Spiel auf. Eine Freundin vertraut sich ihrer Mutter an, die sofort zur Polizei ging. Bei den Ermittlungen stellte sich schnell heraus, dass der hübsche Mike, sein cooler Stiefbruder Carsten und der nette Nachbar ein und dieselbe Person sind: Dieter S., 32, Bauarbeiter. Die Bilder des Schönlings mit den halblangen Locken hatte Dieter S. im Internet geklaut.
Selbst als Bine ihn anzeigt und die Polizei ermittelt, lässt Dieter S. nicht locker. Sie könne doch nicht seine Familie zerstören und den Kindern den Vater nehmen, schreibt er ihr. Das Mädchen sagt vor Gericht aus. Sie hätte dies nicht tun müssen. Aber sie will es unbedingt. Bine, die in Wirklichkeit anders heißt, will Gleichaltrige warnen.
Dieter S. ist einschlägig vorbestraft. Im Mai dieses Jahres wird vom Landgericht Köln wegen sexuellen Kindesmissbrauchs im Internet in mindestens 30 Fällen zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. "Der Angeklagte ist perfide, verschlagen und übel vorgegangen", sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. Und: "Wir gehen davon aus, dass es noch weitere Opfer gibt."
Bine ist Opfer des "Cyber Groomings" geworden, der gezielten Anmache von Kindern im Internet. Die Täter sind in der Regel erwachsene Männer, die im weltweiten Netz nach minderjährigen Opfern fischen.
Für Kinder und Jugendliche ist das Internet ein selbstverständlicher Teil ihres Alltags. 96 Prozent der Jugendlichen haben laut der Shell-Jugendstudie 2010 einen eigenen Internetzugang; fast 13 Stunden pro Woche verbringen sie im Netz. Während die Jungen an Online-Spielen interessiert sind, tummeln sich die Mädchen regelmäßig in sozialen Netzwerken wie SchülerVZ, Jappy, My Space oder ICQ. Sie präsentieren sich auf ihren Profilen meist ein wenig älter als sie sind. Und ein wenig koketter – mit schmachtenden Blicken, Lipgloss-Schnütchen, tiefen Ausschnitten und sexy Posen.
Im Internet können sie verschiedene Rollen ausprobieren. Sie dürfen flunkern, offensiv flirten, über ihre Probleme und Sehnsüchte sprechen. Das Netz ist neben der Clique der einzige Ort, an dem die Jugendlichen so miteinander reden können, wie sie wollen. Ein Ort, an dem sich die Erwachsenen nicht ständig einmischen.
Überhaupt, was soll ihnen am eigenen Schreibtisch, in ihrem eigenen Zimmer schon passieren? Sie können doch jederzeit den Rechner ausschalten. Auch wenn es paradox klingt: Das trügerische Gefühl der Sicherheit führt dazu, dass sie sich öffnen, Details aus ihrem Leben erzählen, die höchstens in ein Tagebuch gehören.
Nach der repräsentativen Studie "Jugend, Information, Multimedia 2009" des Medienpädagogischen Forschungsbundes Südwest stellen zwei Drittel der Jugendlichen Fotos oder Filme von sich oder der Familie ins Netz, 80 Prozent plaudern freizügig über Vorlieben oder Hobbys. Ein Drittel teilt sogar die E-Mail-Adresse mit.
Eine empirische Studie der Universität Köln hat 2005 die sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen in Chaträumen abgefragt. Von 1700 Schülern im Alter zwischen zehn und 19 Jahren sagte jeder Dritte, er sei im Netz schon sexuell angesprochen worden. Die Heranwachsenden sollten über ihren Körper erzählen ("Hast du schon Brüste?"), bekamen Nacktfotos oder pornografische Filme zugeschickt oder sollten sich vor Webcams befriedigen.
"Solche Idioten sind ständig unterwegs", bestätigt auch Bine, die jetzt etwas misstrauischer im Netz chattet. Und wie reagiert sie? "Ich klick den Typ halt weg." Die Heranwachsenden finden es zwar "voll eklig", aber nur wenige sprechen mit ihren Eltern oder anderen Erwachsenen über diese unerfreulichen Begegnungen in der virtuellen Welt.
Opfern von sexueller Gewalt fällt es immer schwer, über den Missbrauch zu sprechen – die Scham und die Schuldgefühle sind zu groß, die seelischen Verletzungen zu tief. Für den Missbrauch in den neuen Medien gilt dies ganz besonders. Schließlich waren die Opfer aktiv beteiligt: Sie waren im Internet unterwegs, sie haben die Antworten getippt, sie haben den Kontakt aufrechterhalten. Sie hätten den Chat jederzeit verlassen, die Webcam ausschalten können, den Kontakt beenden können. Niemand hat sie gezwungen, die Unterhaltung fortzusetzen – und doch haben sie es getan.
Wie im realen Leben findet auch beim Missbrauch im Netz eine emotionale Verwicklung statt. "Ob in der realen Welt oder im Netz – die Strategien der Täter sind die gleichen", sagt Julia von Weiler, Psychologin bei der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" (Unschuld in Gefahr), die sich um Missbrauch im Netz kümmert. "Dank der scheinbaren Distanz des Internets haben die Täter es sogar noch leichter: Sie müssen keine Mühe aufwenden, das Vertrauen ihres Umfelds zu gewinnen. Online haben sie den direkten Zugang zum Kind."
Das nutzen die vermeintlichen Kinderfreunde aus. Sie suchen in Netzwerken gezielt nach Mädchen und Jungen, die über ihre Probleme plaudern wollen. Den Kindern heucheln sie Verständnis vor, sie präsentieren sich als Gleichaltriger oder väterlicher Freund. Sie locken mit einer Karriere als Filmstar oder machen falsche Liebesversprechen. Sie telefonieren, senden Bilder und Geschenke, geben den Heranwachsenden das Gefühl, wichtig und etwas ganz Besonderes zu sein. Scheinbar nebenbei werden auch sexuelle Themen angesprochen.
Empören sich die Kinder, setzen sie sich zur Wehr oder klicken sie den Täter einfach weg, kommen sie als Opfer nicht in Frage. Reagiert ein Junge oder ein Mädchen eher schüchtern, ist dies für die Täter ein Signal, die Beziehung zum Opfer weiter zu intensivieren. Manche versuchen Nacktbilder oder pornografische Aufnahmen zu erhalten, die im Internet ohne körperlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer produziert werden können. Andere legen es darauf an, sich mit den Kindern zu treffen – wohl nicht mit lauteren Absichten.
80 bis 90 Prozent aller sexueller Missbrauchsfälle finden in Deutschland im sozialen Nahfeld statt – aber was heißt sozialer Nahraum im Zeitalter des Internets? Viele Heranwachsende fallen auf die eigene Illusion herein: Der Fremde im Netz erscheint ihnen als guter Freund.
Das Jagdrevier für Sexualstraftäter hat sich mit dem Internet immens vergrößert, sagt die Psychologin Julia von Weiler. "Vielleicht traut sich auch mancher, der zuvor zu große Hemmungen hatte. Sich im Chat als rockstar17 auszugeben ist viel einfacher, als vor einer Schultür zu stehen und ein Kind anzusprechen." Chats seien ideal für eine schnelle Kontaktaufnahme – es gebe Erwachsene, die mit 30 oder 40 Jugendlichen gleichzeitig in Kontakt stünden und und wahnsinnig flott unterwegs seien. Der Tenor: Hallo, guten Tag, schick mir mal ein Nacktbild, willst du Sex mit mir haben?
Adolf Gallwitz, Psychologe an der Polizeifachschule Villingen-Schwenningen, bezeichnet diese Männer als Erlebnistäter. "Es geht ihnen dabei ums Ausprobieren und Experimentieren. Diese Typen nehmen einfach alles mit." Im Netz seien nicht die klassischen Pädosexuellen unterwegs, sondern Täter, die Kinder nur als Mittel zum Zweck betrachteten. Vera, 17, sucht eine Freundin im Internet. Nach einer Woche meldet sich eine junge Frau aus Köln: Susanne, 21, Regieassistentin. Ein Glücksgriff: Die Beiden verstehen sich blendend, sie tauschen ihre E-Mail-Adressen aus, quatschen via Internet über ihre Hobbys und all die Fragen, die Heranwachsende beschäftigen.
Vera will sofort zum Bahnhof zurück. Sie schreit und tobt, greift ihm ins Lenkrad. An einer Ausfahrt kann die junge Frau die Autotür aufreißen und fliehen. Der Fahrer eines Lieferwagen entdeckt sie und informiert die Polizei.
Nach wenigen Tagen ist der Täter gefunden: Heinz-Dieter F., 47. Der Arbeitslose ist einschlägig vorbestraft. Wegen sexuell Missbrauchs einer Widerstandsunfähigen saß er bereits vier Jahre im Gefängnis.
Die junge Frau hatte viel Mut. Und viel Glück. "Im Nachhinein würde ich diese Gespräche im Chat gern löschen", sagt sie heute. "Schon der Gedanke, dass nicht ein Mädchen, sondern ein Mann dahinter steckte, ist voll ekelhaft." Heinz-Dieter F. kommt recht glimpflich davon: Wegen Nötigung wird er im August 2008 vom Kölner Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 500 Euro verurteilt.
Quelle: Badische Zeitung 17.10.2010

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